Marpurg über Nichelmann

Friedrich Wilhelm MARPURG.

Historisch-kritische Beyträge zur Aufnahme der Musik.

 

(Seite 431-439)

 

III. Lebensläuffe verschiedener lebenden Tonkünstler

 

(b) Hr. Christoph Nichelmann ist zu Treuenbrietzen im Jahr 1717. am 13ten Aug. geboren, und den 17ten eben desselben Monaths getauft.

Sein Vater war ein ehrlicher Tuchmacher daselbst, und seine Mutter, eine Frehnsdorfin, ist die Tochter eines verstorbenen Cantoris aus der Graffschaft Barbi.

Er wurde in seinen jüngeren Jahren dem Unterricht und der Aufsicht der beyden Hrn. Vogel, dasiger Schul lehrer, übergeben. Sein erster Lehrmeister in der Musik, und besonders in dem Clavierspielen, war Andreas Schweinitz, und nach dessen Absterben Herr Matthias Christoph Lippe, zween aufeinander folgende Organisten in selbiger Stadt. Im Singen ward er von dem nicht ungeschickten Hrn. Joh. Peter Bubel, dem noch itzt lebenden Cantor daselbst, unterrichtet.

Einer seiner Anverwandten, Hr. Joh. Christian Krüger, welcher in Leipzig studiret hat, und zugleich die Musik verstund, wollte in ihm ein Genie zu der Musik bemerket haben, und rieth daher seinen Eltern, diese Neigung ihres Sohnes auf keine Weise zu unterdrücken.

Er brachte es auch durch sein wiederholtes Anrathen bey denselben dahin, daß sie ihn im Jahr 1730. zu dem Ende nach Leipzig auf die Thomasschule schickten, um ihn so wohl in den nöthigen Schulwissenschaften als auch besonders in der Musik, mit desto glücklicherem Erfolge, unterrichten lassen zu können. Der damahlige Cantor bey dieser Schule, Hr. Joh. Seb. Bach, nahm ihn, obwohl als einen Ausländer, dennoch in die Zahl der Alumnorum um desto williger auf, da er allbereit hinlängliche Fertigkeiten zum Singen mit dahin brachte, um bey Aufführung der Musiken, als erster Diskantist dienen zu können.

Hier übte er also neben den Schullectionen besonders die Musik, und nahm ausser dem Unterricht, dessen er von besagtem Hrn. Cant. Bach in den öffentlichen Stunden genoß,  auch noch besonders Anweisung von dessen ältestem Hrn. Sohne, Wilh. Friedemann Bach im Clavierspielen. Er fieng auch alhier schon an, unter der Aufsicht seiner vortreflichen Lehrmeister, einige Versuche in der Composition zu machen. Nachdem er drey Jahre lang mit diesen Uebungen zugebracht hatte, begunte sich ein Trieb, die theatralische Musik näher kennen zu lernen, bey ihm zu äussern. Nun war die musikalische Schaubühne zu Leipzig schon seit langer Zeit verschlossen. Er entschloß sich also, nebst noch einem seiner Mitschüler, Joh. Gottfried Böhmen, nach Hamburg zu gehen, um so wohl durch Anhörung guter Opern, als durch mündlichen Unterricht geschickter theatralischer Setzer, diesem Triebe genugsame Nahrung verschaffen zu können.

 

Ob wohl die Oper in Hamburg von ihrem ehemaligen Glanze, schon zu der Zeit, vieles verlohren hatte, so war sie dennoch so wohl in Betracht der Musik als wegen der Execution, den übrigen musikalischen Schauspielen in Deutschland nicht eben alzusehr nachzusetzen. Die Composition der Opern, die daselbst aufgeführet wurden, war gröstentheils von Kaisern, Händeln und Telemann. Die Execution in Ansehung des Singens, geschahe von Mad. Kaiser, Mad. Eisentraut, dem Hrn. Riemschneider, Hrn. Möhring, Heller, Schieferlein und andern, deren Singart Deutschland niemals Schande machen wird.

Hr. Nichelmann bewarb sich bey seinem Daseyn mit so gutem Glücke um die Bekanntschaft derer damals daselbst befindlichen dreyen Capellmeister, Hrn. Keisers, Telemanns und Matthesons, daß ihm ein jeder von diesen zu seinem Vorhaben allen nur möglichen Vorschub that. Der erste lehrete ihn besonders das natürliche Wesen in der theatralischen Musik überhaupt kennen; der zweyte machte ihm den Unterschied der französischen und der welschen Musikart fühlbar, und der dritte gab ihm, insbesondere in dem Recitativstyl, Unterricht.

Nachdem er diese Uebungen ein Paar Jahr fortgesetzet hatte, wurde ihm von dem Herrn Hans Ranzau, einem Hollsteinischen von Adel, Königl. Dänischen Conferenzrath und Ritter von Danebrogs Orden, dessen Kinder zur Information auf dem Clavier, auf seinem, bey der Stadt Oldenburg gelegenen Landguthe, angetragen. Er nahm zwar diesen Antrag an, wartete die Musik, so viel es sich thun ließ, für sich dabey fleißig ab; doch verließ er nach Verfliessung eines Jahres das Landleben, reisete nach Hamburg zurück, und setzte daselbst seine musikalischen Uebungen, auf die schon besagte Weise, von neuem wieder fort.

Seine Eltern hätten nunmehro gewünscht ihn auf eine gewisse dauerhafte Weise befördert zu sehen. Sie nöthigten ihn zu dem Ende im Jahr 1738. eine Reise nach Hause zurück zu thun.

Allein, es sollte sich, ihres Bemähens ohngeachtet, noch keine Gelegenheit dazu zeigen. Er gieng also, nach einem kurzen Aufenthalt bey seinen Eltern, nach Berlin, in Meinung sich daselbst durch seinen Fleiß, Bekanntschaften, und Freunde, und vermittelst derselben einen Weg zu einem künftigen Glück zu bahnen. Dieser Ort war auch in der That schon damals an Liebhabern der Musik, nicht so unfruchtbar, daß nicht auch Künstler dieser Art, daselbst ihren Unterhalt hätten finden können. Die häufigen Concerten und Musiken in verschiedenen Häusern, verschaften ihm eine bequeme Gelegenheit sich viele Gönner und Freunde zu erwerben. Eine eben dergleichen Gelegenheit war es, welche ihm die Bekanntschaft des Hrn. Reichsgrafen von Barfus zu wege brachte. Und da dieser ihm unter sehr annehmlichen Bedingungen eine Sekretärstelle bey ihm antragen ließ, hatte er um desto weniger Bedenken dieselbige anzunehmen, je mehr ihm, nach Abwartung seiner Pflichten, noch Zeit genug übrig bleib, der Musik obzuliegen.

Die Umstände seines Principals waren indessen von einer solchen Beschaffenheit, daß derselbe für gut fand, eine Reise nach Preussen auf seine daselbst befindlichen Güter zu thun, und sich beständig daselbst aufzuhalten. Hr. Nichelmann war folglich verbunden, ihm dahin zu folgen. Ob nun wohl gedachter Hr. Graf alle nur mögliche Gutheit gegen ihn hatte, und durch allerhand Versprechungen, ihn dahin zu vermögen gedachte, länger um ihn zu bleiben: so nahm er dennoch aus Beysorge, dass ihn ein längerer Aufenthalt auf dem Lande zu weit von seinem Vorhaben abführen würde, nach Ablauf eines Jahres seinen Abschied von demselben.

Er kam also in dem 1739ten Jahre wiederum in Berlin an, des festen Entschlusses, sich ferner durch nichts weiter abhalten zu lassen, der Musik, und den zu derselben gehörigen Wissenschaften, allein zu obliegen.

Die Musik gewann in dem darauf folgenden 1740ten Jahre, unter der glorreichen Regierung unseres allergnädigsten Monarchen in den Königlichen Landen, und insbesondere in dieser Hauptstadt, ein anderes Ansehen. Se. Königl. Maj. kennen die Kunst, und  lieben dieselbe nach eben dem Maasse. Höchst Dieselben vermehrten also die schon in Diensten stehende Musikos durch eine ziemlich starke Anzahl geschickter Sänger und Spieler von allerhand Art. Sie munterten sie nicht nur durch Lobeserhebungen sehr auf, sondern Sie machten ihnen auch durch starke Besoldungen Lust zu ihrem Dienst.

 

Hr. Nichelmann hatte also alhier genugsame Gelegenheit, seinen natürlichen Hunger nach Musik zu stillen. Auch machte er mit gedachten fremden Gästen auf alle Weise Bekantschaft, um das Gute der welschen musikalischen Ausführungskunst von ihnen anzunehmen.

Mehr ein Zufall, als ein vorherbedachter Vorsatz, brachte ihm unter andern die Bekanntschaft des Hrn. Quantz, und mit derselben zugleich dessen Freundschaft zu wege. Dieser entdekte ihm, mit einer Freymüthigkeit, welche man nur von redlich gesinnten Leuten vermuthen kann, daß er, seines glüklichen Genies ohngeachtet, weder die erforderliche Richtigkeit im Setzen noch hinlängliche Uebung hätte. Er gieng zu dem Ende die unterschiedlichen Arten des Contrapunkts, nach Fuxischer Anweisung, noch einmahl mit ihm durch, und es war nur nach einer volljähriger Uebung in dieser Art, als er ihm verstattete, mit Compositionen im freyen Styl ans Licht zu treten. Hr. Nichelmann verfertigte nunmehro allerhand Arten von Instrumentalsachen. Seine gedrukten Claviersonaten wurden unter andern zu dieser Zeit verfertiget. Während der Zeit, da er den Satz überhaupt und die Instrumentalcomposition besonders, unter der Anführung dieses feurigen Setzers trieb, so verschafte ihm die Freundschaft, die der Hr. Capellmeister Graun für ihn hatte, eine eben so bequeme Gelegenheit, sich unter desselben Beystande in der Vocalcomposition fest zu setzen. Er brachte unter der Aufsicht dieses ausserordentlich angenehmen Setzers verschiedene Cantaten und einzelne Singstücke hervor, deren etliche bey verschiedenen Gelegenheit, von den italienischen Sängern , mit Beyfall der Zuhörer abgesungen wurden.

 

Die Sorge für ein künftiges Glück, schien nunmehro dem Hrn. Nichelmann ein desto wichtigerer Gegenstand zu seyn, da sein gutthätiger Vater in dem Jahre 1742. mit dem Tode abgegangen war, und er sich mithin von aller fremden Hülfe entblösset sahe. Und da ihm sein Vaterland nicht viel Hofnung zu machen schien, so entschloß er sich seinen Stab weiter zu setzen, und seine Reise nach Frankreich und von da nach England zu thun. Indem er mit diesen Gedanken umgieng, und sich zu dem Ende auch schon im August des Jahres 1744. nach Hamburg begeben hatte; so ergieng der hohe Befehl Sr. Königl. Maj. des Königs von Preussen an ihn, sich nach Berlin zurück zu begeben, weil Höchst Dieselben ihn in Dero Musik aufzunehmen, und zu der Composition zu gebrauchen, genädigst gesonnen wären.

Er kam also diesem Befehl zu Folge, im Jahr 1745. Den 16ten März wieder von Hamburg zurück, um die Dienste des Königs anzutreten.

 

In diesem Posten lebet er nunmehro schon seit mehr als 9. Jahren und hat währender Zeit, zu verschiedenen mahlen, verschiedene Proben in der Composition, nicht ohne allergnädigsten Beyfall des Königs, abzulegen das Glück gehabt.

Im Jahre 1746. am 16ten Aug. verehligte er sich mit der Jungfer Johanna Christina Guthmann, der Tochter eines hiesigen Kauf- und Handelsmannes.

 

[Es folgen Anmerkungen zu Nichelmanns Schrift über die Melodie.]

 

Hr. Nichelmann ist übrigens von einem sanften und friedliebenden Naturel, ein Freund der Aufrichtigkeit und der Wahrheit, und weder für sich, noch auch für andere von einer beschwerlichen Gemüthsart.